Zurück Ungarn: „Stop-Soros“-Bestimmung zu illegaler Migration sollte aufgehoben werden, da sie rechtmäßige Arbeit von NGOs ernsthaft beeinträchtigt, so die Rechtsexperten der Venedig-Kommission

Ungarn: „Stop-Soros“-Bestimmung zu illegaler Migration sollte aufgehoben werden, da sie rechtmäßige Arbeit von NGOs ernsthaft beeinträchtigt, so die Rechtsexperten der Venedig-Kommission

In einem heute verabschiedeten Gutachten der Venedig-Kommission wird eine zentrale Bestimmung zu illegaler Migration der sogenannten „Stop-Soros“-Gesetzgebung kritisiert, welche das ungarische Parlament diese Woche beschlossen hat.

Durch die neue Bestimmung – Artikel 353A des Strafgesetzbuchs – wird der Straftatbestand der „Beihilfe zur illegalen Migration“ eingeführt. EU-Richtlinien von 2002 definieren und stärken den strafrechtlichen Rahmen zur Verhütung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt. Die Venedig-Kommission räumt ein, dass viele europäische Länder die auf finanziellen Gewinn abzielende Beihilfe zu Einreise, Aufenthalt oder zur Durchreise illegaler Migranten unter Strafe stellen. Ein derartiger Straftatbestand steht nicht zwangsläufig im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsnormen und es kann die Auffassung vertreten werden, dass er dem legitimen Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung oder der Verhütung von Straftaten laut Artikel 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dient.

Doch die ungarische Bestimmung geht weit über das hinaus, was gemäß Artikel 11 zulässig ist, da sie organisatorische Tätigkeiten, die nicht in direktem Zusammenhang mit der konkreten Realisierung illegaler Migration stehen, auf ungerechtfertigte Weise mit Strafe bewehrt. Zu diesen Tätigkeiten zählen die „Erstellung oder Verbreitung von Informationsmaterial“ oder „die Einleitung von Asylanträgen für Migrantinnen und Migranten“. Die Kriminalisierung derartiger Tätigkeiten unterbindet die Unterstützung von Opfern durch Nichtregierungsorganisationen und schränkt deren in Artikel 11 und im Völkerrecht verankerten Rechte unverhältnismäßig ein. Wenn zudem die Arbeit zur aktiven Unterstützung und die Kampagnentätigkeit kriminalisiert werden (so wie es die neue Bestimmung vorsieht), ist dies dem Gutachten zufolge ein unzulässiger Eingriff in die in Artikel 10 garantierte Freiheit der Meinungsäußerung.

Das Gutachten auf Ersuchen des Ausschusses für Recht und Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates beruht auf einem Besuch einer Delegation der Venedig-Kommission in Ungarn und wurde gemeinsam mit den Rechtsexperten des BDIMR der OSZE erstellt. Das Ersuchen ist nur auf die Bestimmungen des „Stop-Soros“-Gesetzespakets beschränkt, welche die Tätigkeiten von Nichtregierungsorganisationen in Europa beeinträchtigen. Folglich werden andere Bestimmungen, die Flüchtlinge unmittelbarer betreffen, einschließlich Entwürfen zu Verfassungsänderungen, nicht behandelt. Das Gutachten sollte nicht so verstanden werden, dass diesen Änderungen gebilligt werden.

In dem Gutachten wird die ungarische Gesetzgebung mit anderen, ähnlichen Gesetzen in europäischen Ländern verglichen, durch welche die Beihilfe zur illegalen Einwanderung unter Strafe gestellt wird. Während die Gesetze in anderen Ländern Ausnahmen für humanitäre Hilfe enthalten, besteht gemäß dem ungarischen Gesetz keine derartige Ausnahme, was laut den Rechtsexperten gegen internationale Normen verstößt. Personen oder Nichtregierungsorganisationen, die beispielsweise im Rahmen einer moralischen Verpflichtung zur Unterstützung von Einzelfällen tätig sind oder an der ungarischen Grenze Hilfe leisten, müssen mit Strafverfolgung rechnen – selbst wenn sie in gutem Glauben im Einklang mit den internationalen Rechtsvorschriften zur Unterstützung von Asylsuchenden oder anderen Arten legaler Migranten, einschließlich Fällen von Menschenhandelsopfern, handeln.

Darüber hinaus sind die nach dem neuen Gesetz vorgesehenen Strafen für die zu weit gefassten kriminellen Handlungen unverhältnismäßig, da sie bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe umfassen. Tatsächlich könnte dem Gutachten zufolge die Verurteilung eines einzigen Mitglieds einer Nichtregierungsorganisation zu Strafmaßnahmen oder sogar der Auflösung der gesamten Organisation führen, was wiederum einen Verstoß gegen Artikel 11 zur Folge hätte.

Obgleich der im Februar dieses Jahres vorgelegte ursprüngliche Entwurf zum „Stop-Soros“-Gesetzespaket eine öffentliche Konsultation vorsah, gewährleistete die Regierung keinerlei angemessene Konsultation, bevor das Gesetzespaket am 29. Mai dem Parlament vorgelegt und diese Woche darüber abgestimmt wurde. Die Venedig-Kommission betont, dass die Durchführung einer öffentlichen Konsultation mit zivilgesellschaftlichen Organisationen vor der Verabschiedung von Rechtsvorschriften, die diese direkt betreffen, eine bewährte Praxis darstellt, welche europäische Länder bei ihrem innerstaatlichen Gesetzgebungsprozess einhalten sollten.

Die Venedig-Kommission und das BDIMR der OSZE bedauern, dass das Gesetz zwei Tage vor der Verabschiedung dieses Gutachtens angenommen wurde.

Ihre Schlussfolgerung lautet:

Artikel 353A mangelt es an der nötigen Präzision und er entspricht nicht dem Kriterium der Vorhersehbarkeit im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Da er die Einleitung eines Asylverfahrens oder die Einforderung anderer gesetzlicher Rechtsansprüche im Interesse von Asylsuchenden unter Strafe stellt, birgt er für Einzelpersonen und Organisationen, die Migranten rechtmäßige Hilfe bereitstellen, die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung. Überdies ist keine humanitäre Ausnahmeklausel vorgesehen und die Bestimmung führt unklare Optionen bezüglich der betreffenden organisatorischen Tätigkeiten an, während die Arbeit zur aktiven Unterstützung und die Kampagnentätigkeit, einschließlich der Aufklärung von Einzelpersonen über ihre Rechte und Schutzrechte, nicht von ihrem Geltungsbereich ausgenommen werden. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass lediglich die vorsätzliche Veranlassung von Migranten zur Umgehung des Gesetzes zu strafrechtlicher Verfolgung führen sollte. Außerdem droht die Bestimmung die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen zu gefährden, da sie nicht eindeutig zwischen „finanziellem Gewinn“ als explizitem Gegenstück einer illegalen Tätigkeit und „jeglichen Erträgen“, die bei alltäglichen Tätigkeiten von Nichtregierungsorganisationen erzielt werden, unterscheidet. Die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Mitglieds einer Nichtregierungsorganisation und die Haftbarkeit der juristischen Person werden ebenfalls nicht unterschieden, und die Rechtsfolge einer strafrechtlichen Verurteilung eines Mitglieds einer Nichtregierungsorganisation gemäß Artikel 353A könnte sein, dass die Nichtregierungsorganisation als solche auf der Grundlage des Gesetzes CIV von 2001 aufgelöst werden könnte, was unverhältnismäßig erscheint. Schließlich wurde die Bestimmung vor ihrer Verabschiedung nicht zu einer angemessenen öffentlichen Konsultation mit ausreichender Beteiligungsmöglichkeit vorgelegt. Aus diesen Gründen kann die Bestimmung von geschützten organisatorischen Tätigkeiten und Meinungsäußerungen abschrecken und verstößt gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Sie sollte daher aufgehoben werden.

Das verabschiedete Gutachten wird am Montagnachmittag (25. Juni) auf der Website der Venedig-Kommission elektronisch zur Verfügung gestellt.

Venedig-Kommission Straßburg 22. Juni 2018
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