Jasinskis gegen Lettland  | 2010

Versäumnis, den Tod eines behinderten Mannes in Polizeigewahrsam zu untersuchen, führt zu Reformen

Hintergrund

Valdis Jasinskis war gehörlos. Er befand sich in der Nähe einer Studentenparty, als er gestoßen wurde und eine Treppe hinab stürzte. Als die Polizeibeamten eintrafen, wurden sie informiert, dass der Mann behindert war, er das Bewusstsein verloren hatte, nachdem er mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen war, und dass ein Krankenwagen unterwegs sei.

Die Polizeibeamten nahmen Herrn Jasinskis jedoch mit zur Polizeiwache. Da sie ihn für betrunken hielten, sperrten sie ihn in eine Ausnüchterungszelle. Herr Jasinskis klopfte eine Zeitlang an die Tür und an die Wände seiner Zelle, bevor er sich schlafen legte. Er konnte jedoch mit den Polizeibeamten nicht kommunizieren, weil keiner von ihnen die Zeichensprache beherrschte und sie ihm seinen Schreibblock weggenommen hatten.

Sieben Stunden nach der Festnahme von Herrn Jasinskis versuchten die Beamten, ihn zu wecken, was aber nicht gelang. Nach weiteren sieben Stunden wurde ein Krankenwagen gerufen, um ihn in eine Klinik zu bringen, die Besatzung weigerte sich aber, ihn mitzunehmen, da sie dachten, er „simuliere" nur.

Valdis Jasinskis wurde schließlich nach einigen Stunden doch noch in eine Klinik gebracht, verstarb aber kurz darauf.

Valdis Vater Aleksandrs Jasinskis reichte Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

Urteil des EGMR

Obwohl man den Polizeibeamten gesagt habe, Herr Jasinskis sei gestürzt und er sei behindert, sei nach seiner Festnahme kein Arzt benachrichtigt oder eine andere Weise der Kommunikation mit ihm ermöglicht worden. Es seien außerdem sieben Stunden ohne Wiederbelebungsversuch vergangen, bevor ein Notarzt gerufen worden sei. Unter diesen Umständen hätten die Polizeibeamten ihre Pflicht versäumt, das Leben von Valdis Jasinskis zu schützen, während er sich in ihrem Gewahrsam befunden habe.

Die Behörden hätten außerdem versäumt, in dem Fall ordnungsgemäße Ermittlungen durchzuführen. Die anfängliche Untersuchung sei zwischen verschiedenen Stellen hin und her geschoben worden, was zu signifikanten Verzögerungen geführt habe. Die Untersuchung sei schließlich von derselben Polizeistation durchgeführt worden, die Herrn Jasinskis festgenommen habe, was bedeute, dass sie nicht unabhängig gewesen sei.

Obwohl später Ermittlungen von einer unabhängigen Stelle durchgeführt worden seien, seien diese erst 18 Monate nach dem Zwischenfall erfolgt – was zur Folge gehabt hätte, dass die Erinnerung der Zeugen verblasst gewesen sei, der Tatort nicht mehr habe untersucht und der Pathologe nicht mehr befragt werden können. Darüber hinaus seien keine Schritte ergriffen worden, um bestimmte Mängel in der Arbeit der Polizeibeamten zu untersuchen.

Unter diesen Umständen entschied der Gerichtshof, Herr Jasinskis Recht auf Leben sei verletzt worden.

Nachbereitung

Die lettischen Behörden haben eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass das Vorgehen der Polizei effektiv und unabhängig untersucht werden kann.

  • 2010 und 2011 erließ der Generalstaatsanwalt Dekrete, die die staatsanwaltliche Aufsicht bei mutmaßlichen Übergriffen durch Polizeibeamte stärkt.
  • 2011 wurde eine Broschüre über den Beschwerdemechanismus bei Handlungen oder Unterlassungen durch Polizeibeamte von der Staatspolizei in Zusammenarbeit mit verschiedenen NRO herausgegeben.
  • 2012 entschied das Ministerkabinett, das Interne Sicherheitsbüro strukturell von der Staatspolizei zu trennen und es unter die Aufsicht des Innenministeriums zu stellen. Dies bedeutet eine größere Unabhängigkeit bei Untersuchungen des Vorgehens der Polizei.

Die Reformen in diesem Bereich werden weiterhin vom Ministerkomitee des Europarats beobachtet.

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