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Frankreich – Öffentliche Diskussion über das Bioethikgesetz (2018)

Hintergrund, Initiator und Teilnehmende

Frankreich regelt alle bioethischen Themen seit 1988 in einem Gesetz, und seit 2009 nehmen auch die Bürgerinnen und Bürger an öffentlichen Diskussionen zu solchen Themen teil. Seit 2011 ist der Nationale Ethikrat (Comité consultatif national d'éthique, CCNE) unter dem französischen Bioethikgesetz dazu verpflichtet, zu bioethischen Fragen im Zusammenhang mit medizinischen und/oder Forschungspraktiken, die den menschlichen Körper und den Embryo betreffen, öffentliche Diskussionen oder Bürgerkonsultationen zu organisieren. Der erste wie unter dem Bioethikgesetz von 2011 vorgesehene nationale Beteiligungs- und Konsultationsprozess (Generalstände) fand vom 18. Januar bis zum 30. April 2018 statt.


Die Fragestellung

Der CCNE hat neun Diskussionsthemen festgelegt, wovon sieben wissenschaftlicher und zwei gesellschaftlicher Natur waren:

  • Forschung am Embryo und embryonalen Stammzellen
  • Genetische Tests und genomische Medizin
  • Organspende und transplantationen
  • Neurowissenschaften
  • Umgang mit Gesundheitsdaten
  • Künstliche Intelligenz und Robotisierung
  • Umwelt und Gesundheit
  • Fortpflanzung und Gesellschaft
  • Sterbebegleitung

Diese Themen wurden ausgewählt, weil sie im Zentrum des Bioethikgesetzes stehen oder angesichts der jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Bioethik von Bedeutung sind. Obwohl sich die beiden letztgenannten Themen nicht aus dem Gesetz ableiten lassen, hat der CCNE beschlossen, die Diskussion über diese Themen zu fördern, da sie für die Gesellschaft von Interesse sind. Gleichzeitig wollte man aber auch die Gelegenheit nutzen, um anlässlich dieses nationalen Beteiligungs- und Konsultationsprozesses die öffentliche Meinung dazu einzuholen.


Vorgehen

Im März 2018 wurde für rund 60 Journalistinnen und Journalisten eine «Einführung in die Themen der Generalstände» organisiert. Sowohl die nationalen wie auch die regionalen Medien wurden in den gesamten nationalen Beteiligungs- und Konsultationsprozess miteinbezogen, damit sie über die landesweit stattfindenden Veranstaltungen und Diskussionen berichten konnten. Um eine von Offenheit geprägte Atmosphäre unter den Teilnehmenden zu ermöglichen, wurde die Presse bei heiklen Themen jedoch absichtlich nicht über den genauen Zeitpunkt der Diskussion informiert.

Der CCNE gründete ein Bürgerkomitee, das den ganzen Prozess begleitet und zwei zu vertiefende Themen ausgewählt hat: das Lebensende und die präkonzeptionelle genetische Diagnostik. Schliesslich verfasste das Bürgerkomitee drei «Stellungnahmen», die im zusammenfassenden Bericht des CCNE veröffentlicht wurden.

Nebst der Schaffung des Bürgerkomitees initiierte der CCNE im Rahmen der öffentlichen Diskussion folgende Aktivitäten:

  • 271 regionale Treffen mit insgesamt 21 000 Teilnehmenden, die mithilfe der jeweils ansässigen regionalen Ethikkommissionen (Espaces de réflexion éthique régionaux, ERER) organisiert wurden.
  • Eine interaktive Projektwebsite, auf der die Bürgerinnen und Bürger ihre Beiträge teilen konnten. Zwischen Februar und April 2018 hatte die Website mehr als 183 498 Besucherinnen und Besucher, und 29 032 Teilnehmende verfassten 64 985 Beiträge. Am meisten Aufmerksamkeit erhielten die Themen «Fortpflanzung und Gesellschaft» und «Gesundheitsversorgung am Lebensende» (69 Prozent aller Beiträge).
  • 154 Anhörungen vom Februar bis Mai 2018, an denen 400 Vereinigungen und wissenschaftliche Gesellschaften sowie Gruppierungen mit philosophischem oder religiösem Hintergrund teilnahmen.

Nennenswerte Aspekte und gewonnene Erkenntnisse

In diesem Beispiel wird deutlich, dass dank politischem Willen eine sehr starke Bürgerbeteiligung bei den Diskussionen über bioethische Fragen erreicht werden konnte.

Es zeigt auch, wie verschiedene Instrumente kombiniert werden können, um eine fundierte Diskussion über derart unterschiedliche und komplexe Themen voranzubringen.

Für die öffentliche Diskussion war es besonders wichtig, die Termine und Orte der Sitzungen des Bürgerkomitees geheim zu halten, um Druck und Einflussnahme durch die Medien und andere Personen zu verhindern. Gleichzeitig wurden die Medien speziell geschult, um ihr Interesse an dem Projekt und den zu diskutierenden Themen zu wecken. Dieses Vorgehen erwies sich für die Sichtbarkeit in den nationalen Medien als sehr förderlich.

Eine weiterer Effekt dieser auf nationaler Ebene geführten Diskussion war die starke Sensibilisierung für die zu diskutierenden Themen.

Die Auswirkungen der Konsultation auf die Revision des Bioethikgesetzes liessen sich nicht beurteilen, da das Gesetz noch nicht vom Parlament verabschiedet wurde. Es scheint jedoch, dass die öffentliche Diskussion bereits zur Ausarbeitung des neuen Gesetzesentwurfs beigetragen hat.

Auch wenn sich die öffentliche Diskussion auf eine Vielzahl von Instrumenten und eine grosse Meinungsvielfalt stützt, wäre es falsch zu folgern, dass diese zwingend ein genaues Bild der öffentlichen Meinung vermittelt. Die meisten Diskussionen in den verschiedenen Regionen waren zwar geprägt von Aufmerksamkeit und Gelassenheit, das war jedoch nicht immer der Fall. Während Diskussionen zu sogenannt «gesellschaftlichen» Themen gab es bei einigen Gesprächen manchmal nur wenig Raum für Zweifel, Fragen und Nuancierungen, womit auch andere Meinungen kaum Gehör fanden.

Zum Teil wurden auch die Kommunikationsweise- und Möglichkeiten im Internet kritisiert, insbesondere: (i) die Schwierigkeiten beim Zugang zur Website, (ii) die unpräzise Formulierung der «Erkenntnisse und Herausforderungen», (iii) die von einigen als unzureichend bezeichnete Moderation, (iv) die Definition bestimmter Begriffe, die nicht bei allen Parteien ausreichende Akzeptanz fand.

Die Zusammenkünfte haben gezeigt, dass sich die Standpunkte ja nach Alter und Geschlecht unterscheiden können. Schliesslich waren die zahlreichen und vielfältigen Anhörungen weniger als Diskussionsforum als vielmehr als Ort des Zuhörens gedacht. Sie boten Gelegenheit, gemeinsam mit den Organisationen, die der Einladung gefolgt waren, Dinge zu klären und zu präzisieren.

An dieser Stelle gilt es mehrere Feststellungen hervorzuheben:

  • Die Jugendlichen haben dank der Bemühungen der regionalen Ethikkommissionen (ERER) in den regionalen Diskussionen (je nach Thema) eine wichtige Position eingenommen.
  • Es war schwierig, die weniger stark sensibilisierten sowie die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen in den Konsultationsprozess einzubeziehen.
  • Während des Konsultationsprozesses fanden zu einigen wichtigen Themen kaum Diskussionen statt (aus Gründen, die noch zu analysieren sind).
  • Es besteht ein grosser Informationsbedarf nicht nur aufseiten der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch aufseiten der Gesundheitsfachpersonen.
  • Es ist wichtig, die Unterschiede zwischen den Menschen und die unterschiedlichen Werte zu respektieren, insbesondere in Bezug auf homosexuelle und intersexuelle Personen.
  • Schliesslich hat sich zwar das Tätigkeitsgebiet des CCNE verändert, doch die im Zuge dieses Konsultationsprozesses angestellten Betrachtungen waren auch bereichernd. Der CCNE ist ferner überzeugt, dass eine derartige Mobilisierung der Öffentlichkeit für eine nachhaltige Stärkung der nationalen und regionalen Diskussion zu bioethischen Fragen notwendig ist.