DRITTER GIPFEL DES EUROPARATES

Memorandum des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

I. LANGFRISTIGE ZUKUNFT DES SYSTEMS DER KONVENTION

Die zentrale Rolle der EMRK und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

1. Der Gerichtshof betont „die zentrale Rolle, die die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte (EMRK) weiterhin spielen muss in ihrer Eigenschaft als konstitutionelles Instrument der öffentlichen Ordnung Europas, auf der die demokratische Stabilität des Kontinents basiert“1. Aufgrund seiner paneuropäischen Tragweite stellt das Straßburger System außerdem den einzigen Rahmen dar, in dem es möglich ist, ein gemeinsames europäisches Konzept der Menschenrechte aufzustellen.

Erweiterung und Erfolg kennzeichnen die Geschichte des Gerichtshofs

2. Die Geschichte des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine Geschichte der Erweiterung und des Erfolgs: das fakultative Recht auf Individualbeschwerde bei einem unabhängigen Gerichtshof wurde durch ein obligatorisches Recht ersetzt; die geographische Erweiterung des Gerichtshofs, der nun neben Westeuropa auch Mittel- und Osteuropa, die baltischen Staaten, den Kaukasus und die Türkei umfasst; die Ausweitung der Rechtssicherheiten durch die EMRK, dank einer weiterentwickelten Rechtssprechung und dank zahlreicher Zusatzprotokolle; die Bestätigung der zentralen Rolle des Gerichtshofs in der konstitutionellen Landschaft Europas durch den geplanten Beitritt der Europäischen Union zur EMRK.

Bemerkenswerte Leistungsfähigkeit

3. Logische Folge dieser Entwicklungen ist ein großer Anstieg der beim Gerichtshof eingereichten Beschwerden, so dass gegenwärtig die Wirksamkeit des Systems, trotz der enorm gestiegenen Leistungsfähigkeit des Gerichtshofs nicht mehr gewährleistet werden kann. Zwischen 1999 (das erste Jahr, in dem der neue Gerichtshof ganzjährig tätig war) und 2004 wurde das Budget des Gerichtshofs um ungefähr 54% erhöht und die Zahl der Kanzleimitarbeiter um 80%, wohingegen sich die Leistungsfähigkeit, gemessen an der Zahl der abgeschlossenen Fälle, um 470% erhöht hat. Dies wurde dank einer Rationalisierung der Arbeitsmethoden und der internen Organisation erreicht. Diese Erhöhungen reichen jedoch nicht aus, um die ständig wachsende Zahl der Fälle bewältigen und um den daraus resultierenden Rückstand aufholen zu können.

Das Protokoll Nr. 14 muss zügig ratifiziert werden

4. Um das Problem zu lösen, hat das Ministerkomitee des Europarates im Mai 2004 das Protokoll Nr. 14 zur EMRK zusammen mit einigen Empfehlungen und Entschließungen verabschiedet, die die Wirksamkeit der EMRK verbessern sollen. Ziel dieser Reform ist es, dem Gerichtshof zu ermöglichen, sich in erster Linie mit begründeten Beschwerden zu befassen, vor allem mit Beschwerden, die auf schweren Menschenrechtsverletzungen basieren. Dies soll dadurch erreicht werden, dass mehr Fälle herausgefiltert werden und die Umsetzung der EMRK auf nationaler Ebene verbessert wird. Der Gerichtshof bereitet das Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 aktiv vor und ist entschlossen, die darin vorgesehnen Instrumente bestmöglich zu nutzen. Das Protokoll ermöglicht vor allem eine weniger umständliche Bearbeitung der offenkundig unzulässigen Fälle und der eindeutig begründeten Fälle. Deswegen fordert der Gerichtshof die Mitgliedsstaaten des Europarates auf, das Protokoll Nr. 14 zügig zu ratifizieren.

Vor uns liegende Herausforderungen

5. Die jüngsten Voraussagen zeigen jedoch, dass die wesentliche Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gerichtshofs, die durch das Protokoll Nr. 14 letztendlich erzielt wird, vor allem dann, wenn die Regierungen, die im Mai 2004 verabschiedeten Empfehlungen gewissenhaft umsetzen, noch nicht genügen wird, um zu gewährleisten, dass die Anzahl der eingereichten Beschwerden, die Zahl der Fälle, die der Gerichtshof bewältigen kann, nicht übersteigt. Nach diesen Voraussagen könnte die Arbeitslast des Gerichtshofs bis zum Jahr 2007 eine Verdopplung der Mitarbeiterzahl notwendig machen, wobei die zur Aufarbeitung des Rückstands notwendigen zusätzlichen Mittel noch nicht eingerechnet sind, und ohne dass die Frage geklärt ist, ob die Gerichtskanzlei diese Erhöhungen in so kurzer Zeit praktisch bewältigen kann.

Die Notwendigkeit einer Langzeitstrategie

Unabhängige Experten sollten über die Zukunft des Gerichtshofs beraten

7. Deswegen sollte der Dritte Gipfel des Europarates, dessen Ziel es in erster Linie ist, den Rahmen für den Schutz der Menschenrechte im Europa von morgen festzulegen, den Anstoß zu einer tiefgehenden Diskussion über die Zukunft der EMRK und des Gerichtshofs im 21. Jahrhundert geben. Dabei sollten die die neuen Herausforderungen, die sich durch die mittlerweile paneuropäische Tragweite des Systems ergeben haben, berücksichtigt werden. Es könnte dazu eine unabhängige Gruppe bedeutender und erfahrener nationaler und internationaler Richter und anderer Experten beauftragt werden, sich mit diesen Themen auseinander zu setzen und mögliche Szenarien für die langfristige Zukunft der EMRK zu entwerfen. Die Gruppe sollte dabei auf den Nutzen und die Kosten dieser Szenarien verweisen und die Regierungen auffordern, das Thema unter Einbeziehung ihrer Erkenntnisse aufzugreifen.
 

II. DER BEITRITT DER EUROPÄISCHEN UNION ZUR EMRK

Die Bedeutung des Beitritts der Europäischen Union zur EMRK

8. Des Weiteren sollte der Gipfel den Europarat, die Europäische Union (EU) und die Mitgliedsstaaten eindringlich auffordern, in naher Zukunft die Verhandlungen über einen Beitritt der EU zur EMRK aufzunehmen.

9. Die Teilnahme der EU an der EMRK ist ein Thema von größter Bedeutung und paneuropäischer Tragweite, da sie die Kohärenz beim Schutz der Menschenrechte in Europa fördern würde, indem es die EMRK formal zum Standardwerk der Grundrechte in Europa macht, das ungeachtet nationaler Grenzen und anderer Systeme überall anwendbar ist. Schon bei Beginn der Ausarbeitung des Verfassungsvertrags der EU wurde eine Parallelität zwischen dem Beitritt der EU zur EMRK und der Charta der Grundrechte der EU hergestellt. Seitdem wurde die Notwendigkeit diese Parallelität beizubehalten, sowohl vom Konvent über die Zukunft Europas als auch von der Konferenz der Regierungen, insbesondere durch den Artikel I-9 Abs. 1 und 2 des Verfassungsvertrages2 anerkannt. Das Protokoll Nr. 14 wird Artikel 59 Abs. 2 in die EMRK einfügen: „Die Europäische Union kann dieser Konvention beitreten“.
 
 
Die Notwendigkeit, den Beitritt der Europäischen Union vorzubereiten

10. Gegenwärtig vollzieht sich der Prozess der Ratifizierung des Verfassungsvertrages der EU, der die Charta enthält. Noch ist unklar, ob ihn alle Länder ratifizieren werden, dennoch ist es wichtig, sein Inkrafttreten schon jetzt vorzubereiten, insbesondere in Bereichen, in denen zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Mit Inkrafttreten des Verfassungsvertrags tritt auch die Charta in Kraft sowie die Verpflichtung der EU, der EMRK beizutreten. Wenn jedoch bis zu diesem Zeitpunkt keine Vorbereitungen für den Beitritt getroffen wurden, kann dieser erst einige Jahre nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags vollzogen werden, wodurch die Parallelität zwischen dem Beitritt der EU zur EMRK und der Charta durchbrochen wäre.
 
11. Die betroffenen Parteien sollten daher sofort mit Verhandlungen über den Beitritt der EU zur EMRK beginnen. Es ist klar, dass der Beitritt erst dann vollzogen werden kann, wenn die Instrumente, die seine rechtliche Grundlage bilden, in Kraft sind – seitens der EU ist das rechtliche Instrument der Verfassungsvertrag, seitens des Europarates ist es ein Änderungsprotokoll zur EMRK oder ein Beitrittsvertrag, je nachdem, für welche Lösung man sich entschiedet. Es wäre jedoch im Einklang mit der Parallelität zwischen der Charta und der EMRK, wie sie in Artikel I-9 des Verfassungsvertrags festgelegt ist, wenn die Verhandlungen, bei Inkrafttreten des Verfassungsvertrags, so weit wie möglich fortgeschritten wären, um den Zeitraum zwischen Inkrafttreten der Charta und dem Beitritt der EU zur EMRK so kurz wie möglich zu halten.

Note 1 .  „Die Wirksamkeit der Umsetzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte auf nationaler und europäischer Ebene gewährleisten“, Erklärung des Ministerkomitees des Europarates, 114. Sitzung, 12. Mai 2004.
Note 2  Die Gründe für die Parallelität zwischen der Charta und dem Beitritt zur EMRK sind wohlbekannt. Sie wurden auf brillante Weise in dem Abschlussbericht der Arbeitsgruppe II („Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“) des Konvents über die Zukunft Europas (CONV 354/02, 22. Oktober 2002) dargelegt. Bei den Gründen geht es im Wesentlichen um die Notwendigkeit, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, die gefährdet werden könnte, da mindestens die Hälfte der Bestimmungen der Charta genau den Bestimmungen der EMRK entsprechen, ohne dass der Gerichtshof in Straßburg die Möglichkeit hat, die Auslegungen der Bestimmungen zu überprüfen, die im Rahmen der Charta vorgenommen werden. Außerdem sollen den Bürgern in ihren Beziehungen zur EU die gleichen Sicherheiten gewährt werden, die sie in ihren Beziehungen zu den nationalen Behörden ihrer Länder haben. Schließlich würde ein Beitritt für die EU die Möglichkeit bereithalten, bei Verfahren vor dem Straßburger Gericht vertreten zu sein und sie wäre durch dessen Urteile gebunden, wenn ein Fall gegen einen Mitgliedstaat das EU-Recht betrifft. Das kommt immer öfter vor und wird mit Inkrafttreten der Charta noch häufiger vorkommen.