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Interview mit Luzius Wildhaber, Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

25. Februar 2005


Frage: Was erwarten Sie als Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Gipfel in Warschau?

Luzius Wildhaber: Was den Europäischen Gerichtshof angeht, muss der Gipfel zwei Punkte ansprechen: Die Zukunft des Gerichtshofs und den Beitritt der Europäischen Union zur Menschenrechtskonvention.

Drei Etappen hat der Gerichtshof vor sich: die unmittelbare Zukunft vor Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14, die mittelfristige Zukunft nach Inkrafttreten des Protokolls Nr. 14 und die langfristige Zukunft. Der Gipfel sollte sich für jede dieser Etappen auf eine angemessene Strategie einigen. So wie es aussieht, wird der Gipfel sich wahrscheinlich mit den kurz- und mittelfristigen Etappen beschäftigen, insbesondere mit der Unterstreichung der Notwendigkeit, das Protokoll Nr. 14 so schnell wie möglich in Kraft zu setzen. Dieses Protokoll ist wesentlich für die Zukunft des Konventionssystems und deshalb begrüße ich die Unterstützung durch den Gipfel.

Dennoch hat der Gipfel auch die Aufgabe, die längerfristige Zukunft ins Auge zu fassen und eine globale Vision für den Europarat als Ganzes zu entwickeln, und damit auch für den Gerichtshof. Dieser ist zweifellos einer der größten Vorzüge des Europarates. Es ist jedoch klar, dass das Protokoll Nr. 14 nicht alleine alle Probleme des Gerichtshofs lösen kann. Trotz der im Protokoll vorgesehenen Maßnahmen, steigt die Zahl der Fälle weiterhin schneller als unsere Arbeitskapazität. Sollten also keine Änderungen erfolgen, wird der Gerichtshof stetig ansteigende Mittel benötigen. Aus diesem Grund sollte sich der Gipfel auch mit der langfristigen Zukunft des Gerichtshofs beschäftigen, insbesondere vor dem Hintergrund der Prüfungsberichte über den Gerichtshof. Ihre sehr wichtigen Schlussfolgerungen sollten bald und mit Sicherheit noch vor dem Gipfel verfügbar sein. Eine der Möglichkeiten, die dem Gipfel offen stehen, ist beispielsweise, eine Gruppe von „Weisen“ - erfahrenen nationalen und internationalen Richtern - zu bitten, diese Fragen zu überdenken und mögliche Zukunftsszenarien des Gerichtshofs aufzuzeigen, um so die Vorarbeit für die politischen Entscheidungen bezüglich des Gerichtshofs zu treffen, die aufgrund der aktuellen Entwicklungen unvermeidbar sein werden.

Der Gipfel soll klar und deutlich alle Parteien, die am Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention beteiligt sind, dazu aufrufen, die ersten Schritte in Richtung der Verhandlungen hinsichtlich dieses Beitritts zu unternehmen. Dies ist ein sehr symbolischer Akt, ein qualitativer Sprung nach vorn, nicht nur für das Konventionssystem sondern gewiss auch für den gesamten Europarat. Und es ist ein Akt, von dem andere Bereiche der Organisation profitieren werden. Deshalb wäre es eine große Enttäuschung, wenn der Gipfel nicht seine klare, insbesondere seine politische Unterstützung zum Beitritt versichern würde, der bereits in Brüssel im Verfassungsvertrag und in Straßburg im Protokoll Nr. 14 genehmigt wurde.