Zurück Flüchtlingsschutz in Europa: die EMRK und darüber hinaus

Ansprache

Videobotschaft anlässlich des 20. Berliner Symposiums zum Flüchtlingsschutz "Europa, Corona und die Menschenrechte - Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für den Flüchtlingsschutz"

Meine Damen und Herren,

In den letzten 70 Jahren hat sich die Europäische Menschenrechtskonvention zu einem unverzichtbaren Instrument für den Schutz der Rechte von Hunderten von Millionen Menschen in Europa entwickelt. Auch wenn die Konvention Flüchtlinge nicht explizit nennt, haben sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs wichtige Schutzfunktionen ergeben, u. a. in den Bereichen Nichtzurückweisung, Familienzusammenführung und Begrenzung des Freiheitsentzugs.

Dessen ungeachtet werden die Rechte von Flüchtlingen laut Konvention nur allzu häufig verletzt: man greift nicht ein, wenn sie ihr Leben auf dem Meer riskieren, man schiebt sie in gefährliche Staaten ab, unterwirft sie schlechter Behandlung oder willkürlicher Haft, separiert sie von ihren Familien oder bringt sie in überfüllten Lagern unter erschreckenden Bedingungen unter.

Heute werden Sie von herausragenden Experten etwas über die Rolle der Konvention für den Flüchtlingsschutz erfahren und vielleicht auch etwas über ihre Grenzen. In meinen kurzen Anmerkungen möchte ich ein wenig über die Konvention, im streng genommenen Sinne, hinausgehen. Mein Fokus liegt mehr auf der Frage, auf welche Weise die Maßnahmen der Mitgliedstaaten die wichtigen Schutzfunktionen in Frage stellen, die die Konvention den Flüchtlingen bietet.

Zum einen stelle ich eine Verschiebung fest, wie die Mitgliedstaaten auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesem Bereich reagieren. Es ist nicht neu, dass die Mitgliedstaaten des Europarates manchmal versuchen, ihre Verpflichtungen laut Konvention zu umgehen. Wenn es jedoch um die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten geht, erleben wir dies immer wieder. Immer stärker scheint sich der Fokus der Mitgliedstaaten bei der Ausarbeitung einer Asyl- und Einwanderungspolitik nicht mehr an der Vereinbarkeit mit der Konvention auszurichten. Vielmehr wird mit immer neuen Methoden versucht zu verhindern, diese Verpflichtungen überhaupt zur Anwendung zu bringen.

Dies ist besonders deutlich im Mittelmeerraum zu sehen. Als der Gerichtshof im Fall Hirsi Jamaa feststellte, das Abfangen und die Rückführung der Migranten nach Libyen habe Artikel 3 der Konvention verletzt, war dies ein klares Signal für die Mitgliedstaaten. Obwohl die unmittelbare Rückführung nach Libyen größtenteils eingestellt wurde, wurde das Urteil im Fall Hirsi Jamaa als Vorlage benutzt, um neue Praktiken zu entwickeln und einen effektiven Umgang mit den über das Meer kommenden Menschen zu vermeiden. Diese Praktiken schließen u. a. die Übertragung der Rettung an die libyschen Behörden ein, ohne dass es Absicherungen in Bezug auf die Menschenrechte gibt. Während die Mitgliedstaaten des Europarates damit die Ereignisse auf Abstand halten, geschieht nichts, um diese Menschen vor Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe zu schützen. Selbst wenn die Mitgliedstaaten argumentieren, dies erfülle die Bestimmungen der Konvention, was noch zu entscheiden wäre, glaube ich, dass dieser Ansatz dem Geist der Konvention immens schadet.

Umgekehrt sind die Mitgliedstaaten, wenn der Gerichtshof keine Verletzung in bestimmten Situationen feststellt, mehr als bereit, daraus eine weit gefasste Rechtfertigung ihrer Praktiken abzuleiten, um jene, die internationalen Schutz brauchen, außen vor zu halten. Das Urteil der Großen Kammer im Fall ND und NT gegen Spanien wurde z. B. von mehreren Mitgliedstaaten als Blankoschein für ihre Abweisungspraktiken begrüßt. Dies ungeachtet der Tatsache, dass das Urteil ihre Verpflichtungen laut Artikel 3 sowohl im Hinblick auf Nichtzurückweisung als auch im Hinblick auf das Verbot von schlechter Behandlung unberührt ließ. Außerdem befasst sich das Urteil mit äußerst spezifischen Gegebenheiten vor Ort, die sich in anderen Mitgliedstaaten in vielen Fällen erheblich unterscheiden.

Zweitens erfolgt die heutige Diskussion vor dem Hintergrund eines politischen Kontextes, in dem Verletzungen der Konvention auftreten. Jahre und manchmal Jahrzehnte einer unzureichenden Umsetzung und fehlender Investitionen in die Aufnahme- und Asylsysteme haben ein gut handhabbares Problem in ein politisches Chaos verwandelt. In vielen europäischen Staaten steigt die gegen Migranten gerichtete Rhetorik, u. a. in Regionen, in denen sich nur wenige oder gar keine Migranten niederlassen. Der Gerichtshof hat unmissverständlich klargestellt, dass Staaten das Recht auf die Kontrolle ihrer Grenzen haben, aber diese Kontrolle muss im Einklang mit den Verpflichtungen laut Konvention erfolgen. Politiker äußern sich jedoch immer häufiger dahingehend, die Menschenrechte seien kein wesentliches Element der Grenzkontrolle, sondern ein Hindernis für diese. Und dass Menschenrechte geopfert werden müssten, um nationale oder europäische Grenzen zu schützen. Dieses Narrativ hat eine gewichtige europäische Dimension. Es geschieht nicht selten, dass Regierungsvertreter eines Mitgliedstaates implizit über rechtswidrige Praktiken, wie z. B. Zurückweisungen, eines anderes Staates hinwegsehen. Oder diese Staaten sogar für diese loben.

Obwohl spezifische rechtliche Verpflichtungen gemäß Konvention einzelne Mitgliedstaaten betreffen, sind gemeinsame politische Maßnahmen erforderlich, um sicherzustellen, dass der Schutz der Konvention maßgeblich für eine langfristige Asyl- und Einwanderungspolitik sein muss. Dies bedeutet, dass unsere politischen Führungskräfte ihre Kollegen zur Rechenschaft ziehen müssen für Maßnahmen, die dem allgemeinen Schutz der Rechte schaden. Und dass sie die zutiefst schädliche Idee hinterfragen müssen, Regierungen könnten entscheiden, ob sie die Standards der Konvention und die Urteile des Gerichtshofs aufgrund politischer, wahltaktischer und manchmal persönlicher Interessen der Entscheidungsträger einhalten oder nicht.

Da dieses Symposium in Berlin stattfindet, schließe ich meine Ansprache mit dem Hinweis, dass Deutschland, als einflussreicher Akteur in der europäischen Politik, hierbei eine wichtige Rolle zukommt. Es kann diese Rolle bilateral ausüben, aber auch im Zusammenhang seiner EU-Ratspräsidentschaft und seines Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarates, die beide dieses Jahr beginnen. Ich hoffe, dies wird zu einem positiven Impuls für die anstehenden Diskussionen über die Zukunft der Asyl- und Einwanderungspolitik in Europa führen und den Schutz der Menschenrechte umfassend stärken, einschließlich im Hinblick auf den Beitritt der EU zur Konvention.

Ich wünsche Ihnen allen ein ertragreiches Symposium und hoffe, dass ich in naher Zukunft mit vielen von Ihnen die Gelegenheit für einen Gedankenaustausch zu diesem wichtigen Thema haben werde.

Straßburg 22/06/2020
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