Branko Tomašić und andere gegen Kroatien |2009

Gerechtigkeit für Familie von ermordeter Mutter und Tochter

. . . alle angemessenen Maßnahmen hätten ergriffen werden müssen, um [M. T. und V. T.] vor diesen Bedrohungen zu schützen . . .

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Januar 2009

Hintergrund

Die Inhaftierung von M. T.s geistesgestörtem Ex-Partner wegen Gewaltandrohungen gegen sie und ihre kleine Tochter, V. T., sollte ihrem entsetzlichen Martyrium eigentlich ein Ende setzen. Die kroatischen Gerichte wiesen den Mann an, sich einer psychiatrischen Behandlung zu unterziehen. 

Doch nur Wochen nach der Entlassung aus dem Gefängnis erschoss er M. T. und ihre Tochter und beging dann Selbstmord, indem er die Waffe gegen sich selbst richtete. 

Später stellte sich heraus, dass der Mann während der Verbüßung seiner Freiheitsstrafe nur fünf Mal in ärztlicher Behandlung war und auch nur wegen Erkrankungen, die in keinem Zusammenhang mit der zu behandelnden Erkrankung standen. Er hatte sich keiner psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung unterzogen. Bevor er inhaftiert wurde, hatten Psychiater vor der „hohen Wahrscheinlichkeit“ gewarnt, dass der Mann erneut dieselben oder ähnliche Straftaten begehen würde, wenn er keine Behandlung erhalten würde.  

Verwandte von M. T. und V. T. beschlossen, den Fall nach Straßburg zu bringen, nachdem die kroatischen Behörden ihre Beschwerde, dass Versäumnisse beim Schutz der ihnen Nahestehenden und den Ermittlungen der Umstände ihres Todes vorlagen, ignorierten.

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof stellte fest, dass die kroatischen Behörden keine angemessenen Maßnahmen ergriffen hatten, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass der Täter seinen Drohungen gegen M. T. und V. T. nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis Taten folgen lässt. Die Behörden hätten den Tod von Mutter und Tochter nicht verhindert und seien deshalb für den Verstoß gegen ihr Recht auf Leben verantwortlich. 

Der Gerichtshof sprach der Familie € 40.000 als Entschädigung zu.

. . . die Regierung hat nicht nachgewiesen, dass die verpflichtende psychiatrische Behandlung, die in Bezug auf [den Täter] für die Dauer seines Gefängnisaufenthalts angeordnet wurde, tatsächlich und angemessen durchgeführt wurde . . .

Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Januar 2009

Folgemaßnahmen

Seit dem Urteil hat Kroatien erhebliche Änderungen vorgenommen, um sicherzustellen, dass Opfer von häuslicher Gewalt besser geschützt werden: 

  • Die erste auf fünf Jahre angelegte nationale Strategie zum Schutz vor häuslicher Gewalt wurde 2011 eingeführt. Eine zweite, im Jahr 2017 eingeführte Fünfjahresstrategie soll den Rechtsrahmen und die Abstimmung zwischen öffentlichen Einrichtungen stärken.
  • Im Jahr 2013 trat ein neues Strafgesetzbuch in Kraft. Darin wurden konkrete Sicherheitsmaßnahmen für Urheber häuslicher Gewalt eingeführt, darunter verpflichtende psycho-soziale Behandlung und Sicherheitsüberwachung nach der Entlassung aus dem Gefängnis.
  • Ein neues, 2018 verabschiedetes Gesetz zur Bewährung unterstützt den Schutz der Opfer durch die Einführung eines Verfahrens zur Beurteilung der Rückfallgefahr eines Täters.
  • Kroatien ratifizierte das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt („Istanbul-Konvention“). Das Übereinkommen trat in Kroatien im Oktober 2018 in Kraft. Die Behörden haben beträchtliche Mittel für seine Umsetzung zur Verfügung gestellt. 
  • Eine weitere Änderung des Strafgesetzbuchs im Jahr 2020 sieht eine Mindestgefängnisstrafe von einem Jahr für Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt vor.
Themes:

Ähnliche Beispiele

Richtungsweisendes Urteil, das Europa zum Handeln gegen Gewalt gegen Frauen veranlasste

Nahide Opuz wurde jahrelang von ihrem Ehemann misshandelt und die Gewalt führte tragischerweise zur Ermordung ihrer Mutter. Der Europäische Gerichtshof urteilte, dass die Türkei nicht genug unternommen hat, um Opuz und ihre Mutter zu schützen, und zum allerersten Mal, dass geschlechtsspezifische Gewalt eine Form der Diskriminierung ist. Das Urteil trug dazu bei, internationale Anstrengungen zur...

Read more

Zwangssterilisation von Roma-Frau führt zu strengeren Regeln für die Einwilligung in Behandlungen

V.C. war Opfer einer Zwangssterilisation, einer Praxis, die in der Slowakei jahrzehntelang fortbestand und Roma-Frauen in unverhältnismäßigem Ausmaß betraf. Der Europäische Gerichtshof urteilte, dass das Verfahren, das während V.C.s Entbindung durchgeführt wurde, Misshandlung gleichkommt. Die Slowakei brachte neue Regeln zur Einwilligung von Patienten in medizinische Behandlungen ein, nachdem...

Read more

Besserer Schutz für Opfer sexueller Gewalt, nachdem Polizei Vergewaltigungsvorwurf nicht angemessen untersucht hatte

B.V. versuchte jahrelang, die Behörden dazu zu bringen, ihre Anschuldigungen wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu prüfen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass die belgischen Behörden B.V.s Beschwerden nicht ernsthaft und gründlich untersucht hatten. Belgien hat seitdem zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um Opfer sexueller Gewalt besser zu schützen.

Read more