Tagayeva und Andere gegen Russland  | 2017

Sieg vor Gericht für Opfer des Terrorangriffs auf eine Schule in Beslan

Als Mutter ist es schrecklich, die eigenen Kinder zu begraben… Da ich selbst diesen Schmerz erlebt habe, kann ich es nicht zulassen, dass andere das Gleiche erleben. Wir müssen unser Bestes geben, damit sich dies nicht wiederholt.

Emma Tagayeva, die ihren Ehemann und beide Söhne bei dem Angriff verlor. Berichtet von der BBC.  - © Foto Creative Commons Aaron Bird

Hintergrund

Im September 2004 stürmten mehr als dreißig schwer bewaffnete Terroristen eine Schule in Beslan in Nordossetien. Über fünfzig Stunden lang hielten sie mehr als 1.000 Menschen als Geiseln, die Mehrzahl von ihnen Kinder. Nach Explosionen, einem Brand und einem bewaffneten Eingriff waren mehr als 330 Menschen, darunter 180 Kinder, tot und mehr als 750 verletzt.

Es kam später heraus, dass die örtlichen Behörden ausreichend Hinweise auf einen Terrorangriff gegen eine Bildungseinrichtung an diesem oder um dieses Datum herum hatten. Sie versuchten jedoch nicht, die Terroristen abzufangen, die Sicherheit an der Schule zu erhöhen oder die Öffentlichkeit zu warnen.

Der Reaktion der Behörden auf den Zwischenfall fehlte es an formaler Führung, was zu schweren Fehlern bei Entscheidungen und Koordinierung führte. Da es an Vorschriften fehlte, wie die Sicherheitskräfte auf Terroristen reagieren sollten, wurden bei den Gebäuden, in denen noch immer Geiseln festgehalten wurden, unterschiedslos Waffen eingesetzt. Diese Waffen schlossen Flammenwerfer, Granatwerfer und eine Panzerkanone ein, was zu den vielen Toten unter den Geiseln beitrug.

409 Opfer oder Familienangehörige trugen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ihren Fall vor, und argumentierten, es habe zahlreiche Versäumnisse seitens der russischen Behörden in Bezug auf den Angriff gegeben. Viele wollten einfach nur die Wahrheit über den Angriff erfahren und daraus lernen, um zukünftige Tragödien zu vermeiden.

Urteil des EGMR

Laut Europäischer Menschenrechtskonvention sind die nationalen Behörden verpflichtet, wann immer möglich Bedrohungen des Lebens abzuwenden und angemessene Schritte zu ergreifen, um Schaden in gefährlichen Situationen zu begrenzen. Bei diesem Zwischenfall hatten es die Behörden jedoch auf vielfache Weise versäumt, ihrer Pflicht nachzukommen.

Der Gerichtshof entschied, angesichts ihrer Kenntnisse über einen anstehenden Angriff seien die Bemühungen der Behörden, die Geiselnahme zu verhindern und die Öffentlichkeit zu warnen, unzureichend gewesen. Die Planung und Kontrolle der Sicherheitsoperation seien schlecht organisiert gewesen und hätten keine Führung aufgewiesen. Aufgrund fehlender gesetzlicher Regelungen seien unterschiedslos Waffen in der Schule eingesetzt worden, was zur Anzahl der Opfer beigetragen habe. Schließlich seien die anschließenden Ermittlungen zu diesem Zwischenfall unzureichend gewesen, um die Wahrheit über das Geschehene zu ermitteln.

Der Gerichtshof wies auf die Notwendigkeit vielfältiger Maßnahmen hin, die zum Ziel hätten, aus der Vergangenheit zu lernen, das Bewusstsein für relevante gesetzliche und operative Standards zu erhöhen und ähnliche Gewalttaten in Zukunft zu verhindern.

Den Beschwerdeführern wurden fast 3 Millionen Euro Entschädigung zugesprochen.

Die Toten kommen nie mehr zurück, aber wir können stark sein und offen über das Geschehene sprechen, damit Beslan der letzte Angriff dieser Art war.

Frau Ella Kesayeva, deren vier Familienangehörigen während des Angriffs als Geiseln gehalten wurden. Sie ist Vorsitzende von Voice of Beslan, einer lokalen NRO. Berichtet vom European Human Rights Advocacy Centre - © Foto Jam News      

Nachbereitung

Seit 2012 hat der Europarat die russischen Reformen zu den Strukturen und Verfahren im Hinblick auf den Umgang mit Terrorismus beobachtet. Dieses Monitoring ergab sich zunächst aus einem anderen Fall beim Straßburger Gerichtshof, der die Geiselnahme in einem Moskauer Theater im Jahr 2002 betraf (Finogenov und Andere gegen Russland).

Seit dem Zwischenfall in Beslan wurden zwei Dekrete des Präsidenten und ein föderatives Gesetz erlassen, um den gesetzlichen und ordnungspolitischen Rahmen zur Bekämpfung des Terrorismus zu verbessern.

Eine Bandbreite von Schulungen, Veranstaltungen und Übungskursen wurde durchgeführt, um die Kapazität der Behörden im Umgang mit Terrorereignissen zu verbessern.

Der Europarat verfolgt weiterhin die Reformen in diesem Bereich und die zusätzlichen Ermittlungen, die bei diesen Ereignissen erforderlich sind.

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