Zurück Russische Föderation – die Öffentliche Diskussion und ihre Auswirkung auf das Gesetz über die Transplantation von Menschlichen Organen und Geweben (2016)

Russische Föderation – die Öffentliche Diskussion und ihre Auswirkung auf das Gesetz über die Transplantation von Menschlichen Organen und Geweben (2016)

Hintergrund

Innerhalb der Russischen Föderation ist die Organisation von Konsultationen zu Gesetzesentwürfen auf Behördenebene sowie die Durchführung öffentlicher Diskussionen seit Langem gängige Praxis. Öffentliche Diskussionen finden in unterschiedlichem Rahmen und mit Vertreterinnen und Vertretern von Berufsverbänden und interessierten Organisationen, wie beispielsweise Patientenvereinigungen, statt.


In Übereinstimmung mit dem Beschluss der Regierung der Russischen Föderation über ein «Massnahmenpaket zur Verbesserung der Gesetzgebungstätigkeit» aus dem Jahr 2009 werden sämtliche von Regierungsstellen und Vollzugsbehörden gebilligten Gesetzesentwürfe auf einer speziellen Website für die öffentliche Diskussion aufgeschaltet. Die Kommentare und Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger werden direkt auf dieser Website gepostet oder über diese übermittelt, und die Stellungnahmen zu den formulierten Vorschlägen erfolgen ebenfalls direkt über diese Website. Diese Stellungnahmen werden von Beamten des Gesundheitsministeriums, des Medizinischen Dienstes und des Rechtsdienstes, unter Mitwirkung von Sachverständigengruppen, erarbeitet.

Ferner werden mit verschiedenen Zielgruppen öffentliche Diskussionen über die Gesetzesentwürfe geführt. Nebst den Vertreterinnen und Vertretern der Gesellschaftskammer, in der sich die Vielfalt der Zivilgesellschaft spiegelt, sind dies die verschiedenen Fachkreise (einschliesslich Akademikerinnen und Akademiker), die Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Glaubensrichtungen sowie die Patientenvereinigungen.

Die Gesetzesentwürfe werden basierend auf den geäusserten Meinungen angepasst. Wird davon ausgegangen, dass die Annahme eines Gesetzesentwurfs die Menschenrechte verletzt oder einschränkt, kann dieser erneut der Öffentlichkeit zur Stellungnahme vorgelegt werden.


Die Fragestellung

Das Gesetz über die Transplantation von menschlichen Organen und Geweben von 1992 erlaubt die Entnahme von Organen aus dem Körper eines erwachsenen Menschen nach dessen Tod, sofern dies nicht nachweislich gegen dessen Willen geschieht. Mit anderen Worten: Wurde die Entnahme nicht explizit abgelehnt («opt-out»), so wird von einer Zustimmung ausgegangen. Das Gesetz ist auf die Organtransplantation ausgerichtet und weist erhebliche Lücken in Bezug auf Menschenrechtsfragen im Zusammenhang mit Organspenden auf.

Es hat eine Diskussion darüber stattgefunden, ob die Angehörigen einer verstorbenen Person in den Entscheidungsprozess bei Organspenden einbezogen werden müssen und ob sie das Recht haben, die Organspende abzulehnen, wenn die verstorbene Person ihren Willen nicht festgehalten hat.

Bei einer anderen Diskussion ging es um die Organspende von Kindern. Das Gesetz von 1992 verbietet Lebendspenden bei Kindern unter 18 Jahren und verlangt die informierte Einwilligung eines Elternteils (ausdrückliche Zustimmung – «opt-in»), bevor einem verstorbenen Minderjährigen ein Organ entnommen werden darf.

Mit dem 2016 vorgeschlagenen neuen Gesetzestext wollte man das Organspendegesetz verbessern und dabei bestehende Lücken hinsichtlich der Rechte von Spendern schliessen, ein Gleichgewicht zwischen den Rechten von Spendern, Empfängern, ihren Angehörigen und Fachpersonen in medizinischen Einrichtungen schaffen sowie eine Verbesserung in Bezug auf rechtliche und ethische Aspekte der Organspende erreichen.

Ziel war es auch, das Bewusstsein für die Bedeutung der Organspende in der Öffentlichkeit zu fördern und diese über die jüngsten Entwicklungen und die Aussichten auf eine Verbesserung der aktuellen Rechtslage zu informieren.


Vorgehen

Die vorgeschlagenen Änderungen wurden, wie im Text von 2009 vorgesehen, zur Konsultation und öffentlichen Diskussion vorgelegt.

Die Diskussionen fanden in unterschiedlichem Rahmen statt. An der Online-Diskussion rund um den Gesetzesentwurf nahmen in erster Linie über 40-jährige gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger teil und äusserten ihre Ansichten zur Organspende. Ihre Haltung gegenüber der Organspende war im Allgemeinen negativ oder neutral.

Bei den Jugendlichen fand diese Diskussion in den sozialen Netzwerken statt.

In Fachkreisen wurde der Gesetzesentwurf anlässlich von Zusammenkünften mit Sachverständigen eingehend diskutiert. Die Meinungen der Sachverständigen wurden unter Berücksichtigung der Regeln für die Ausarbeitung eines der Regierung vorzulegenden Gesetzesentwurfs analysiert. Das Ministerium, das für die Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs verantwortlich zeichnete, nahm zu diesen Analysen Stellung.

Ergebnisse

Aufgrund der bei den Diskussionen gewonnenen Erkenntnisse konnte das Ministerium die Bestimmungen des Gesetzesentwurfs sowie die an die Bürgerinnen und Bürger gerichteten Informationskampagnen über Organspenden verbessern.

Der Teil des Gesetzes, der die Organspende verstorbener Kinder erlaubt, ist ständiger Kritik ausgesetzt. Die Diskussion hat gezeigt, dass die russische Gesellschaft für die Organspende bei verstorbenen Kindern nicht bereit ist, obwohl das Gesetz diese Praxis bereits regelt und der Umsetzung entsprechender Bestimmungen nichts im Wege steht.

Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen wurden heftig kritisiert und der neue Text noch vor Übersendung an das Parlament (Duma) wieder zurückgezogen.


Nennenswerte Aspekte und gewonnene Erkenntnisse

Da der Unversehrtheit des Körpers verstorbener Personen grosse Bedeutung beigemessen wird, ist die Organspende in der russischen Gesellschaft ein äusserst heikles Thema. Die Sachverständigen konnten zwar bei vielen Fragen einen Konsens erzielen, es bestehen jedoch nach wie vor Ungereimtheiten, was die Rechte der Angehörigen von Spenderinnen und Spendern anbelangt.

Eine der wichtigsten hieraus gezogenen Lehren ist, dass nur dann eine effiziente Diskussion möglich ist, wenn die Öffentlichkeit über ein umfassendes Verständnis des Themas verfügt, insbesondere wenn das Thema Menschenrechtsfragen aufwirft. Der Diskussion sollte eine breit angelegte Informationskampagne vorausgehen, bei der alle zur Debatte stehenden gesetzlichen Bestimmungen (aktuelle und neue) im Detail erläutert werden.

Die Diskussion rund um den neuen Gesetzesentwurf geht weiter. Die grösste Herausforderung besteht darin, zu erreichen, dass die über 50- bis 60-jährigen Bürgerinnen und Bürger, die sich sehr aktiv an den öffentlichen Diskussionen zu Organspenden beteiligen, ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Thema ändern.

Die öffentliche Diskussion muss an den jeweiligen kulturellen Kontext angepasst werden. Das Problem liegt möglicherweise historisch und kulturell begründet, zumal es sich bei der Russischen Föderation um ein multiethnisches und multikonfessionelles Land handelt, in dem es von jeher wichtig war, die Unversehrtheit des Körpers einer Person vor der Bestattung zu wahren.

  • Diminuer la taille du texte
  • Augmenter la taille du texte
  • Imprimer la page