Zurück Gastkommentar: Corona darf kein Freibrief zum Schnüffeln sein

Gastkommentar

DW, 02/05/2020

Immer mehr Länder greifen auf Apps zurück, um ihre Bürger in der Corona-Krise zu überwachen. Doch der Datenschutz muss trotz Pandemie gewahrt werden, meint Dunja Mijatovic, die Menschenrechtskommissarin des Europarates.

COVID-19 hat bereits über 200.000 Menschen auf der Welt getötet, mehr als die Hälfte davon in Europa. Es ist daher verständlich, dass die Regierungen scharfe Maßnahmen ergreifen mussten. Da die Restriktionen nun nach und nach gelockert werden, ist es entscheidend, dass die sehr restriktiven Maßnahmen den Notstand nicht überdauern.

Die Überwachung ist hierfür ein typisches Beispiel: Während das Potenzial der digitalen Werkzeuge zur Eindämmung von Infektionen weiter erforscht werden sollte, können sich diese aber auch gegen uns wenden. Wenn sie zum Beispiel in unsere Privatsphäre eindringen und unsere Fähigkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft einschränken. Dieses Risiko ist bereits in mehreren europäischen Ländern Realität geworden.

Beunruhigende Beispiele für den Trend zur Überwachung

In Russland hat die Regierung auf Gesichtserkennungskameras zurückgegriffen, um Quarantäneanordnungen durchzusetzen. Jedoch ohne zu garantieren, dass diese Technologie nicht für andere Zwecke verwendet wird. In Aserbaidschan müssen die Bürger ihre Bewegungen per SMS an ein elektronisches System melden, damit die Polizei sie überwachen kann. In Montenegro hat die Regierung auf ihrer Website die Namen und Adressen von Personen veröffentlicht, die nach Rückkehr aus dem Ausland zur Selbstisolierung aufgefordert wurden.

In Polen schreibt eine von der Regierung vorgeschriebene App vor, dass Personen in Quarantäne mehrmals täglich mit Zeitstempeln versehene Selbsteinträge mit GPS-Koordinaten vornehmen müssen. Das Nichteinhalten dieser Verpflichtung kann ein Eingreifen der Polizei nach sich ziehen und zu einer saftigen Geldstrafe führen. Die Türkei kündigte ebenfalls eine ähnliche verpflichtende App an, um den Aufenthaltsort von Personen zu kontrollieren, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden.

In Großbritannien deckte der „Guardian" auf, dass Technologiefirmen die vertraulichen persönlichen Daten von Patienten ohne Transparenz und Rechenschaftspflicht weiter verwendet haben.

Standards müssen auch in der Krise gelten

Dies sind nur die beunruhigendsten Beispiele für einen allgemeinen Überwachungstrend in Europa, der Fragen hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den Standards für den Datenschutz aufwirft.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zwar eingeräumt, dass es zu Einschränkungen kommen kann und dass die Erhebung persönlicher Daten in bestimmten Notsituationen notwendig sein kann. Er betonte jedoch auch, dass Staaten dies nur unter außergewöhnlichen und genau definierten Bedingungen tun dürfen. Wobei sie aber angemessene rechtliche Garantien und eine unabhängige Überwachung bieten müssen. Sie müssen außerdem sicherstellen, dass die ergriffenen Maßnahmen auf einem Gesetz beruhen, für das verfolgte Ziel notwendig bleiben, möglichst wenig in die Privatsphäre eingreifen und wieder aufgehoben werden, sobald der Grund für ihre Einführung nicht mehr besteht.

Wenn die Regierungen diese Grenzen nicht respektieren, riskieren sie, unsere Rechte zu gefährden, ohne notwendigerweise unsere Gesundheit besser zu schützen. Sie laufen auch Gefahr, die Unterstützung der Öffentlichkeit zu verlieren, die für die Bemühungen der Staaten im Bereich der öffentlichen Gesundheit unverzichtbar ist.

Eine wesentliche Erinnerung des Ministerkomitee des Europarates

Es ist daher wesentlich, dass das Ministerkomitee des Europarates, in dem alle seine 47 Mitgliedsstaaten vertreten sind, am 22. April an folgendes erinnert hat: Die Staaten müssen die Krankheit und ihre weiteren Folgen nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Organisation und den von ihnen eingegangenen Verpflichtungen bekämpfen. Dies ist ein wesentliches Prinzip, das nun von den Mitgliedstaaten konkret umgesetzt und befolgt werden muss.

In der Tat braucht eine Demokratie nicht die Privatsphäre ihrer Bürgerinnen und Bürger opfern, um deren Gesundheit zu schützen. Die Regierungen müssen das richtige Gleichgewicht zwischen diesen beiden Anforderungen finden. Hierfür ist eine Reihe von Festlegungen notwendig.

Schutz der Privatsphäre

Zunächst einmal müssen digitale Geräte in Einklang mit den Normen zum Schutz der Privatsphäre und zur Nichtdiskriminierung entwickelt und genutzt werden. Sie müssen anonym, verschlüsselt und dezentralisiert sein, auf Open-Source-Basis funktionieren und einer möglichst großen Zahl von Menschen zur Verfügung stehen, um so die digitale Kluft zu überbrücken. Ihre Verwendung muss freiwillig sein, auf der Grundlage einer Zustimmung nach vorheriger umfassender Information erfolgen, auf die Zwecke des Gesundheitsschutzes beschränkt sein, eine klare zeitliche Begrenzung enthalten und völlig transparent sein. Die Nutzer müssen jederzeit die Möglichkeit haben, die Nutzung zu verweigern, alle ihre Daten zu löschen und Eingriffe in ihre Privatsphäre durch wirksame Rechtsmittel anzufechten.

Zweitens müssen entsprechende Gesetze das Recht auf Privatsphäre, wie es durch die Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geschützt ist, strikt einhalten.

Rechtsstaatlichkeit muss gewährleistet sein

Drittens alles Handeln der Regierungen einer gerichtlichen Überprüfung sowie der Kontrolle durch das Parlament und nationale Menschenrechtsinstitutionen unterliegen, um die Rechenschaftspflicht zu gewährleisten. Unabhängige Datenschutzbehörden müssen technische Geräte vor ihrem Einsatz testen und genehmigen.

Epidemien und Pandemien sind reale Bedrohungen, die eine wirksame Reaktion erfordern. Doch darf die gesundheitspolitische Pflicht zu handeln nicht zu einem Freibrief für Schnüffelei im Leben der Menschen werden. Überwachungsmaßnahmen, welche die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit umgehen, sind keine demokratische Lösung.

Strasbourg 01/05/2020
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